Beat Wittmann: «Deutschland braucht ein neues Wirtschaftswunder»
Nach Jahren selbstverschuldeter wirtschaftlicher Stagnation und einem vorhersehbaren sowie vorhergesagten Verlust an Wettbewerbsfähigkeit braucht Deutschland dringend strukturelle Reformen und überfällige Investitionen, um seine wirtschaftliche Erosion zu stoppen und sein enormes Potenzial zu entfalten, schreibt Beat Wittmann in seinem Essay für finews.first.
In dieser Rubrik nehmen Autorinnen und Autoren Stellung zu Wirtschafts- und Finanzthemen.
Deutschland braucht ein neues «Wirtschaftswunder» – nichts weniger. Das erste wurde vom berühmten und einflussreichen Ludwig Erhard geschaffen, dem ehemaligen Wirtschaftsminister (1949–1963) und Bundeskanzler (1963–1966) Deutschlands, der sein Versprechen «Wohlstand für alle» einlöste. Erhard war ein erfolgreicher Verfechter der sozialen Marktwirtschaft, die freien Kapitalismus mit einem starken sozialen Sicherheitsnetz verband und damit die Grundlage für Deutschlands langfristigen Erfolg als Industrie- und Exportnation legte.
Ich bin überzeugt, dass Kanzler Friedrich Merz und seine konservativ-sozialdemokratische Regierungskoalition über die nötigen Kompetenzen und Ressourcen verfügen, um zu liefern – aber der Erfolg eines transformativen Programms wird von einer mutigen Führung, politischem Willen und parlamentarischen Mehrheiten abhängen.
«Deutschland muss die Versorgung mit nicht-fossilen Energiequellen, einschliesslich Kernenergie, ausbauen.»
Deutschland muss anerkennen, dass Russlands Invasion in die Ukraine und der Angriff auf die europäische Sicherheitsarchitektur die geopolitische, sicherheitspolitische und wirtschaftliche Ordnung der Nachkriegszeit unwiderruflich beendet haben. Eine neue Ordnung muss aufgebaut werden – von Europa für Europa.
Donald Trumps Programm des US-Nationalismus und Unilateralismus, seine beschwichtigende Haltung gegenüber Russland, seine eigenmächtigen Forderungen nach der Eingliederung Kanadas und Grönlands haben die transatlantischen Beziehungen weiter beschädigt.
Trump wird von drei persönlichen Zielen getrieben: als mächtigster «Dealmaker» der Welt anerkannt zu werden, den Friedensnobelpreis zu erhalten und Reichtum anzuhäufen. Er verachtet die EU und europäische Demokratien, da sie sein liberales politisches Gegengewicht in den USA – die Demokratische Partei – widerspiegeln.
Europa jedoch braucht keine Belehrungen aus den USA über demokratische Werte und Meinungsfreiheit und sollte sich insbesondere gegen aktive Einmischung in die deutsche und europäische Politik wehren, insbesondere auch gegen die Unterstützung rechtsextremer Parteien.
Deutschland muss sein seit dem Ende des Kalten Krieges und der Wiedervereinigung verfolgtes Modell aufgeben, das auf den Export von Produkten nach China, Energieimporte aus Russland und Sicherheitsgarantien durch die USA beruhte. Jetzt haben die Entkopplung von Russland sowie das Risikomanagement gegenüber China und den USA Priorität.
Als führende Wirtschaftsmacht Europas muss Deutschland die Versorgung mit nicht-fossilen Energiequellen, einschliesslich Kernenergie, ausbauen und die Preise senken, die Verteidigungsausgaben erhöhen, den Wehrdienst wieder einführen und Waffenlieferungen – einschliesslich Taurus-Raketen – an die Ukraine ausweiten.
Die Geschichte lehrt uns, dass ein imperialistisch veranlagtes Russland nur durch militärische Überlegenheit eingedämmt werden kann, und dass Diktatoren wie Wladimir Putin nur auf drei Wegen entfernt werden können: durch eine militärische Niederlage, einen Palastputsch oder einen Volksaufstand.
«Ich erwarte anhaltend disruptive und höchst kontroverse geoökonomische Entwicklungen.»
Kanzler Merz hat einen guten Start hingelegt, wird jedoch nicht in den Genuss der klassischen 100-Tage-Schonfrist kommen. Ich erwarte anhaltend disruptive und höchst kontroverse geoökonomische Entwicklungen während der G7- und NATO-Treffen im Juni. Deutschland und Europa dürfen keine Zeit verlieren, um in allen Bereichen kritischer Infrastruktur zu investieren und die kostspielige und schädliche Fragmentierung in Schlüsselsektoren wie dem Verteidigungssektor, den Kapitalmärkten und der Bankenunion zu überwinden.
In dieser Hinsicht war der jüngste EU-UK-Gipfel ein produktiver und positiver Schritt nach vorne – wenn auch nicht übermässig ambitioniert. In prioritären europäischen Fragen, insbesondere bei der Wiederaufrüstung und der kollektiven Sicherheit, erwarte ich mehr Initiativen einer «Koalition der Willigen» mit möglichen Beteiligungen von Nicht-EU-Mitgliedern wie dem Vereinigten Königreich, der Schweiz und Norwegen – und dem Ausschluss unwilliger EU-Mitglieder wie Ungarn.
«Die deutsche Bevölkerung war so frustriert von der jahrelangen politischen Lähmung»
Der Kanzler und seine Regierung müssen sowohl in der internationalen Politik als auch in innenpolitischen Fragen schnell konkrete Ergebnisse liefern. Leider stehen die Stabilität der Regierung und ihre Fähigkeit, parlamentarische Mehrheiten zu organisieren, in Frage.
In der Zwischenzeit sitzt ihr die AfD im Nacken. In den vergangenen zwei Jahrzehnten wurde Deutschland von Kanzlerinnen und Kanzlern wie Angela Merkel und Olaf Scholz mit einem Übermass an Stabilität und Durchwursteln regiert – das führte zu geopolitischer Verwundbarkeit und wirtschaftlicher Stagnation. Nun ist entschlossene Führung gefragt, um strukturelle Reformen und tiefgreifende Veränderungen umzusetzen.
Die deutsche Bevölkerung war so frustriert von der jahrelangen politischen Lähmung, dass die radikale AfD bei den vergangenen Wahlen zur zweitstärksten Partei aufstieg. Sie führte eine aggressive und erfolgreiche Kampagne, die von identitätsgetriebenem Populismus geprägt war und sich auf die Bekämpfung von Migration und Pluralismus konzentrierte. Deutschlands Regierung ist unter diesen Prämissen zum Erfolg verdammt – denn nur so lässt sich die voranschreitende Opposition der AfD eindämmen.
Denken Sie an Emmanuel Macron im Hinblick auf das Rassemblement National (RN), Keir Starmer und die Reform UK oder Donald Tusk mit Blick auf die PiS. Die Hauptursache für den Unmut ist eine gescheiterte Migrationspolitik auf der ganzen Linie.
Richtig gesteuerte und kontrollierte Migration ist nicht nur wirtschaftlich positiv, sondern demografisch notwendig. Unkontrollierte und ungeregelte Migration in Kombination mit mangelnder Rechtsdurchsetzung ist jedoch wirtschaftlich unproduktiv und schafft soziale Spannungen, Rassismus und Kriminalität.
«Das wichtigste Anlagethema in diesem Jahr ist die globale Kapitalumschichtung.»
Trumps radikales MAGA-Programm und sein Zollkrieg führen zu globaler Fragmentierung, schwächerem Wachstum, geringerer Produktivität und einem Vertrauensverlust bei Konsumenten, Unternehmen und Investoren. Anleger in US-Vermögenswerte werden künftig höhere Risikoprämien verlangen, um Trumps unvorhersehbare Politik, den sich verschlechternden Fiskalpfad, den Bedeutungsverlust des Dollars als globale Leitwährung sowie den institutionellen Verfall und die Aushöhlung der Rechtsstaatlichkeit zu kompensieren.
Daher ist das wichtigste Anlagethema für 2025 und darüber hinaus die globale Kapitalumschichtung – insbesondere ein Rückzug aus überbewerteten und unterdurchschnittlich performenden US-Finanzanlagen. Trumps Präsidentschaft beginnt erst, doch mit ihr auch die Repatriierung von Kapital zugunsten Europas.
Bisher zogen die USA enorme Kapitalzuflüsse an, um ihr wachsendes Haushaltsdefizit zu finanzieren und profitierten von überlegenem Wirtschaftswachstum und Unternehmensgewinnen – insbesondere im Technologie- und Finanzsektor. Das gilt nun nicht mehr.
«Zwei Hauptfaktoren beeinflussen die Märkte.»
Geografisch gesehen glaube ich an Deutschland und Europa insgesamt, und sektoral favorisiere ich den Verteidigungssektor, Energie und Finanzen. Ich erwarte nicht nur, dass Europa die US-Märkte im Jahr 2025 und darüber hinaus deutlich übertreffen wird, sondern dass es auch zum bevorzugten Ziel für sichere Anlagen werden wird – mit deutschen Bundesanleihen statt US-Treasuries und dem Euro statt dem Dollar.
Zwei Hauptfaktoren beeinflussen die Märkte: Erstens ist Europa fest demokratisch verankert und verpflichtet sich multilateraler Zusammenarbeit, starken und unabhängigen Institutionen sowie der Rechtsstaatlichkeit.
Zweitens ist mit Fortschritten bei institutionellen Reformen, erheblichen fiskalischen Ausweitungen und der Mobilisierung privaten Kapitals für grosse langfristige Investitionen in allen Bereichen kritischer Infrastruktur – insbesondere Verteidigung und Energie – zu rechnen.
«Russland wird der geoökonomische Verlierer sein.»
Für Europa ist es von existenzieller Bedeutung, aufzurüsten und die Ukraine im Kampf gegen den gemeinsamen Feind Russland zu unterstützen. Angesichts der aktuellen Lage erwarte ich, dass dieser Abnutzungskrieg in einem eingefrorenen Konflikt endet, und die beiden Länder getrennt durch eine Demarkationslinie entlang der heutigen Front bleiben – wie in Korea.
Mittelfristig wird Russland der geoökonomische Verlierer sein – reduziert auf ein überdimensioniertes Nordkorea und Juniorpartner Chinas. Die Ukraine hingegen wird gestärkt daraus hervorgehen und sich Europa anschliessen. Der enorme Wiederaufbaubedarf der Ukraine stellt eine gewaltige und attraktive Angebotschance dar – insbesondere für Deutschland und Polen.
Eine erfolgreich wiederaufgebaute und integrierte Ukraine eröffnet Europa die Möglichkeit, einen enormen geopolitischen Schritt in Richtung dringend benötigter strategischer Autonomie zu machen.
Beat Wittmann ist Mitgründer, Partner und Verwaltungsratspräsident von Porta Advisors. Das in Zürich ansässige Unternehmen wurde 2015 als unabhängige Corporate-Finance-Beratung mit internationaler Ausrichtung gegründet und bietet Beratungsdienstleistungen für Finanzinstitute, Family Offices und Unternehmen an. Zudem ist er stellvertretender Verwaltungsratspräsident von Solutio, einer auf Privatmärkte spezialisierten Investmentgesellschaft mit Sitz in München, Deutschland. Den Grossteil seiner früheren Bankkarriere absolvierte er bei UBS Asset Management in Zürich, bevor er als CIO und CEO Investment Products bei Clariden Leu (einem Unternehmen der Credit Suisse) tätig war. Anschliessend übernahm er die Funktion des CEO Investment Products bei der Bank Julius Bär und war Mitglied der Geschäftsleitung. Er hat an der Universität Basel (Schweiz) studiert und einen Master of Science in Economics erworben.